Schmelzendes Plastik. Eine Kulturgeschichte der Playlist (bis zum Jahr 2020)

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In ihrem exzellenten Buch Mood Machine: The Rise of Spotify and the Costs of the Perfect Playlist zitiert Liz Pelly aus einem Essay mit dem Titel »Zur Geschichte der Playlist«, der im Jahr 2021 in Listen! DNA #2, herausgegeben von Lina Brion und Detlef Diederichsen, erschienen ist. Die veröffentlichte Version weicht stark von meinem ersten Entwurf ab, den ich an dieser Stelle nachreichen möchte, weil er mir besser gefällt.

Der folgende Text entspricht weitgehend diesem ersten Entwurf und wurde zwar überarbeitet und ergänzt, nicht aber aktualisiert. Viereinhalb Jahre nach seinem Entstehen ist der letzte Satz des Texts demnach umso ernster zu nehmen. Vor allem wichtig ist an dieser Stelle: Pelly hat die Praktik hinter den sogenannten Fake Artists mittlerweile in einem Kapitel ihres Buchs aufgedeckt, das im Magazin Harper’s unter dem Titel »The Ghosts in the Machine« veröffentlicht wurde.

Die Wikipedia-Kategorie »Lists of Music Lists« verzeichnet Anfang Juli 2020 insgesamt 54 Einträge, darunter »Lists of Geordie song-related topics«, »Lists of music inspired by literature« oder »Lists of UK Independent Singles and Albums Breakers Chart number ones«.1 Die selbst als alphabetisch sortierte Liste strukturierte Übersicht führt so zu weiteren Listen, beispielsweise einer chronologischen Auflistung von Listen, die für verschiedene Jahrzehnte die Erstplatzierungen von gesonderten Charts aufführen; Charts, die wiederum gemeinhin selbst in Listenform präsentiert werden. Dazu warnt ein Hinweis in der Kategorie trocken: »This list may not reflect recent changes«2.

Listen sind, so scheint es, komplizierter, als sie aussehen. Als sich schnell wandelnde Form von Kulturproduktion hantiert Musik dennoch fast fetischistisch mit ihnen, um Ordnungen zu schaffen, Chronologien zu konstruieren und Wissen schnell konsumierbar zu machen. Oder aber, um für Vergleichbarkeit und also quantitative oder qualitative Urteile zu sorgen, Hierarchien zu konstruieren oder gar zu verfestigen. Zu diesen Zwecken homogenisiert eine jede Liste das Heterogene, ermöglicht eine bestimmte Form der Rezeption und schafft ein Angebot, das auf eine Nachfrage antwortet, sie antizipiert oder überhaupt erst produziert. Die Liste ist somit immer ökonomisch, weil sie einerseits Zeit und Mühe spart und andererseits wirtschaftliche Interessen genauso ab- wie ausbildet.

Deshalb sind Listen zugleich Dokumente und Katalysatoren kultureller Umwälzungen. Charts beispielsweise beziehen ihre Legitimität dadurch, in weitgehend regelmäßigen Abständen in ständiger Referenz aufeinander Veränderungen darzustellen. In den internen Alterationen der Charts drücken sich zugleich externe Prozesse aus: Kulturelle Ereignisse und die damit verknüpften sozialen Bewegungen, technologische Entwicklungen, ökonomische Fluktuationen – all das lässt sich im vergleichenden Blick auf ein paar Listen herauslesen. Doch sind nicht nur die Inhalte selbst, sondern auch die Form der Liste selbst Veränderungen unterworfen. Die Liste ordnet nicht nur Medien oder mediale Inhalte, sie vermittelt sie auch und ist damit selbst ein Medium – und als solches genauso wandelbar wie das, was sie ordnet.

Als allgegenwärtigste Iteration der Liste steht die Playlist im 21. Jahrhundert am Ende von kulturellen und sozialen, vor allem aber technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die sie gleichsam mit antreibt. Laut Angaben des Unternehmens Spotify wurde im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrtausends zunehmend mehr Musik über Playlists gehört, woran das Unternehmen zweifelsfrei einen großen Anteil hatte.3 Doch wie das verworrene Netz aus Listen über Musiklisten, die in einer eigens dafür eingerichteten Wikipedia-Kategorie aufgelistet werden, ist die Playlist kompliziert. Denn was eigentlich ist das überhaupt: eine Playlist?

Ist die Playlist »ganz einfach eine Sammlung von Songs«4, wie es auf der Spotify-Homepage heißt? Eine »Wiedergabeliste«5, wie Wikipedia den Begriff ins Deutsche übersetzt, also »vorwiegend die Zusammenstellung von digitalen Musikstücken (siehe auch MP3), die auf Computern abgespielt werden«6? Eventuell, obwohl sie mittlerweile primär über die Cloud abgerufen werden. Macht sie das zum »album of the streaming world«7, wie der Musikjournalist John Seabrook in The Song Machine. Inside the Hit Factory behauptet? Womöglich. Vermutlich aber nicht, solange das Konzept des Albums nicht allein an die unveränderliche Reihenfolge von Einzelstücken, sondern immer auch eine Urheberschaft gebunden ist.

»A playlist is a set of songs selected by human curation or a computer algorithm (e.g., machine learning), or a combination of the two methods«8, schreibt der Ökonom Alan B. Krueger in Rockonomics. What the Music Industry Can Teach Us About Economics (and Our Future) und definiert die Playlist somit nicht über den Akt der Produktion, sondern der Kuration. Laut K. E. Goldschmitt und Nick Seaver hat eben dieser Akt immer anteilig menschliche und maschinelle Anteile9, weswegen eine eindeutige Urheberschaft schwer oder unmöglich zu ermitteln ist. Zumal die Inhalte der Playlist, die einzelnen Musikstücke, in der Regel nicht vom menschlich-maschinellen Verbund selbst produziert werden. Die Playlist hat eine diffuse Autorität ohne konkrete Autorschaft.

Wozu aber die Playlist? Als reines Marketinginstrument, als »word of mouth taken to an industrial scale«10, wie Chris Anderson sie bereits im Jahr 2008 in The Long Tail charakterisierte? Falls ja: Für was wirbt sie? Propagiert »Barack Obama’s 2019 Summer Playlist«11 die darin mit Musik vertretenen Künstler:innen, die einzelnen Stücke, die Streaming-Plattform oder gar ihren Kurator? Und warum erstellt selbst ein Fruchthandelsunternehmen wie Chiquita12 Playlists? Ist eine Playlist eine Ware oder nur deren Marketinginstrument? Handelt es sich bei ihr lediglich um »a way of recommodifying the individual tracks of the disaggregated album«13, wie es in der Studie Spotify Teardown zu lesen ist?

Sind Playlists deshalb, wie zuvor schon Jeremy Wade Morris argumentiert hatte, »metacommodities«14 und also »commodities that rewrap individual commodities into a bundle under the assumption that the new whole is greater than the sum of its old parts and another new whole is only a recombination away«15? Was unterscheidet sie dann wiederum doch von Alben? Ihre Flexibilität, würde Morris argumentieren: »Each playlist puts old commodities into new contexts, offers consumers multiple ways to purchase the same product, and gives users another chance to participate in the process of commodification.«16 Nicht die Produkte, sondern der kuratorische Akt wäre demnach die konsumierte (Meta-)Ware.

Was eine Playlist eigentlich ist, kann dementsprechend deshalb schwer erklärt werden, weil sie noch extremeren inhaltlichen und gestalterischen Veränderungen unterliegt als andere Listen zuvor. Sumanth Gopinath und Jason Stanyek beschreiben sie in ihrem Aufsatz Technologies of the Musical Selfie als »[e]ndlessly fungible and automatically generated, easily stored, widely shared«17 und verweisen auf ihre »origins in concert programming and performance setlists, radio and discotheque DJ playlists, the track order of original LPs and reaggregated compilation albums, and end-user-created analogue or digital ›mixtapes‹«18.

All das legt nahe, dass ein tiefergehendes Verständnis der Playlist nur mit Blick auf ihre Geschichte möglich ist. Diese ist eine der Dematerialisierung von Musik und ihrer anschließenden Reaggregierung in digitaler Form und damit auch von (Meta-)Waren, deren Form sich wandelt und deren Inhalte in neue Kontexte überführt werden, indem neue geschaffen werden. Was wiederum soziokulturelle Fragen aufwirft.

Die Produktion von Popularität: Charts, Radio und Muzak

Sumanth Gopinath und Jason Stanyek reihen die Playlist ganz richtig in die Tradition von Konzertprogrammen und sogenannten Setlists ein, welche ihrerseits ihren Ursprung in noch älteren Praktiken haben. Die Repertoires fahrender Musiker:innen, Troubadouren oder oral vermittelten Liedern sind jedoch höchstens Playlists avant la lettre. Denn mit dem Buchstaben beziehungsweise der Erfindung des Buchdrucks, das heißt der technischen Reproduzierbarkeit von Notationen erst nimmt die Playlist wirklich ihren Anfang.

Ab dem 16. Jahrhundert werden erstmals Kompendien von Partituren gedruckt und verkauft.19 Der Anbeginn der Kuration von Musikstücken fällt so mit der Kommodifizierung von Kompositionen zusammen. Derweil die Wiedergabe dieser Kompositionen noch menschliche Arbeit voraussetzt, werden solche Sammlungen bereits im 18. und 19. Jahrhundert mechanisch spielbar: Die Prinzipien der Drehorgel und des Pianolas sowie der Ende des 19. Jahrhunderts erfundenen Jukebox basieren auf einer zu jeweils unterschiedlichen Graden automatisierten Wiedergabe von vorab selektierter Musik.20

So prägt die Musikindustrie eine kuratorisch-rekombinatorische Praxis aus, die dezidiert verschiedene Medien zur Kuration und aktiven Wiedergabe verwendet. Parallel dazu gewinnen wohl kaum zufällig Listen, die das Vorhandene katalogisieren und inventarisieren, immer mehr an Relevanz und wirken sich letztlich immer mehr auf die Rezeption und Kuration von Musik aus.

Als ab Anfang des 20. Jahrhunderts die US-amerikanische Zeitschrift Variety die allerersten Charts abdruckt, sind diese noch nicht als Rankings angelegt, wie es mit der Einführung der Single Charts im 1952 gegründeten britischen Magazins New Musical Express oder den drei Jahre später folgenden Billboard 100 üblich wird. Doch definieren die Charts zum einen, was populär ist und zum anderen, wie sich Popularität überhaupt konstituiert, wie Ernest A. Hakanen in »Counting down to Number One: The Evolution of the Meaning of Popular Music Charts« argumentiert.21

Anfang des 20. Jahrhunderts indes werden die Partiturzusammenstellungen für den Hausgebrauch langsam durch den Siegeszug von gleich zwei Medien abgelöst. Im selben Zug, in dem Musik »actually radically rematerialised as a durable commodity, a fixed entity for private consumption«22 wird, wie Martin Scherzinger in Hinblick auf den weltweiten Siegeszug der Schallplatte feststellt, erlaubt das Radio durch die Dematerialisierung von Musik die schier unendliche Rekombination verschiedener Aufnahmen. Geregelt wird diese auch durch redaktionell erstellte Playlists. Diese wiederum werden von ökonomischen Interessen geformt.

Im Radio werden kommerzielle Interessen und kulturelle Kuration nicht allein durch ein Geschäftsmodell enggeführt, das die Wiedergabe von Musik mit der Einbringung von Werbung kombiniert. Auch nähren sich die Playlists der Sendungen zunehmend aus den Charts.23 Dass die Labels, die mittlerweile den Verlagen ihre Vormachtstellung auf dem Musikmarkt abgerungen hatten, darauf aktiv einwirken, wird spätestens im Jahr 1960 evident, als in den USA ein Gesetz gegen das sogenannte »Payola«, die systematische Bestechung von Radio-DJs und Programmredaktionen, erlassen wird.

Payola bekräftigt eine These Jacques Attalis, nach welcher die Kulturindustrie der »production of demand, not the production of supply«24 verpflichtet sei: Ein Radioprogramm stellt immer in einer Doppelbewegung heraus, was gerade populär ist, wie es zugleich die Popularität von bestimmten Songs überhaupt erst proklamiert oder sogar produziert. Je häufiger ein Song im Radio läuft, desto mehr brennt er sich ins kollektive Gedächtnis ein, wird also zum Hit und verkauft sich umso mehr – weshalb er die Charts heraufklettert und deshalb wiederum häufiger im Radio läuft.25

Umso mehr offenbart sich die Verwicklung von wirtschaftlichen Interessen und der Dissemination von Kulturproduktion ab dem Jahr 1934, als das Unternehmen Muzak seine Aufnahmen über das Radio zu verbreiten beginnt. Ziel von Muzak ist einerseits die Produktivitätssteigerung von Fabrikarbeiter:innen, die je nach Tageszeit mit verschiedenen Rhythmen und Tempi in ihrer Arbeitstätigkeit manipuliert werden sollen, sowie weiterhin die freundliche Berieselung von den (Nicht-)Orten des Konsums wie etwa Warenhäusern. Das erschafft eine Paradoxe Situation: Obwohl Muzak zur Aktivität animieren soll, ist das Konsumverhalten ein passives.

Doch weitere technologische Entwicklung ermöglichen dem Publikum im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zunehmend, selbst kuratorisch und rekombinatorisch tätig zu werden. Mit dem Aufkommen des DJing ab Ende der sechziger Jahre und in den siebziger Jahren erhalten die technologischen Möglichkeiten ihrer Zeit sogar einen Ausdruck als Kulturtechnik. An Playlists sind diese neuen Technologien zwar nicht gebunden, aber maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus Konsument:innen zunehmend Kurator:innen werden.

Am Ende der Knappheit: Der Walkman-Effekt, Personalisierung und Dematerialisierung

Mit der flächendeckenden Einführung des Walkmans durch das Unternehmen Sony im Jahr 1979 findet eine weitere mediale Umwälzung statt. In seinem Essay Der Walkman-Effekt wertet Shuhei Hosokawa im Jahr 1987 den Walkman zwar als Wiedergabegerät, das »eine[] Welt des Alleine-Musik-Hörens«26 eröffnet, durchaus positiv. Er preist ihn als Gerät der »Verkleinerung«27, der »Singularisierung«28, »Autonomie«29 sowie der »Konstruktion/Dekonstruktion von Bedeutungen«30. Im selben Zug weist er aber auf die damit einhergehende »Devolution«31 in technisch-technologischer Hinsicht hin: »[Der Walkman] repräsentiert eher eine funktionale Reduktion, einen technologischen Rückschritt.«32

Hosokawa übergeht, dass sich rapide die Form des Mixtapes herausbildet: Einzelne Stücke werden aus dem Radio oder von Schallplatten sowie später von der im Jahr 1983 auf dem Markt ankommenden Compact Disc auf Band überspielt und in eine individuell bestimmte Reihenfolge gebracht, die beispielsweise nach thematischen Aspekten oder nach musikalisch-ästhetischen Parametern sequenziert werden. Dies kann als erstes Beispiel einer genuin konsumentenkuratierten Playlist gewertet werden. Mit dem Siegeszug der CD und später dem CD-Brenner beziehungsweise CD-ROMs in den neunziger Jahren intensiviert sich dieses Privat-Playlisting als Evolution der Kuration durch Konsument:innen immer weiter.

Ermöglicht wird dies in erster Linie dadurch, dass Musik im Laufe der fortschreitenden Digitalisierung dematerialisierbar wird. Das Format MPEG-1 Audio Layer III wird im Jahr 1993 veröffentlicht und verändert – unter dem etwas griffigeren Kürzel MP3 – schon bald die Distribution und den Konsum von Musik auf Desktop-Computern. Das Internet wird mehr und mehr zum Verbreitungsmedium von Audioinhalten. Mit dem Multimedia-Framework QuickTime des Unternehmens Apple sowie dem Real Audio Player von RealNetworks wird erstmals sogar der Rund-um-die-Uhr-Zugriff auf Audio-Dateien ermöglicht.

Die ersten Internet-Radio-Sendungen werden sogar schon ab dem Jahr 1993 ausgestrahlt, am 5. September 1995 schließlich bietet RealNetworks erstmals die Live-Übertragung eines Baseball-Spiels an. Audioinhalte werden gleichermaßen on demand wie live verfügbar und ermöglichen somit eine Form von Personalisierung, wie sie weder herkömmliche Tonträger noch das Radio alleine bieten konnten. Das Publikum wird deshalb zunehmend unabhängiger von vorgegebenen Playlists und damit auch den Popularitätsdefinitionen der Musikindustrie und Distributionsbranchen. Aus deren Sicht verdampft alles Ständische und Stehende, scheint das den ihnen als Einkommensquelle dienende, stofflich ihrem Warenangebot zugrundeliegende Plastik analog zu ihren Gewinnmargen vor ihren Augen zu schmelzen.

War das Mixtaping für den Walkman oder das heimische Kassettendeck noch an die physischen Limitationen des Tonträgers gebunden und basierte auf der Reproduzierbarkeit von Musik, wurde diese nun (weitgehend) verlustfrei kopierbar und zumindest theoretisch unendlich oft in Programmen wie dem 1997 ausgerollten Media-Player Winamp rekombinierbar. Waren Musikaufnahmen zuvor an die Logik der Knappheit gebunden, regierte nun plötzlich der Überfluss. Das wiederum hatte nicht nur Auswirkungen auf kulturelle Praktiken, sondern unbedingt auch kulturindustrielle Konsequenzen.

Das Unternehmen Liquid Audio verkauft ab dem Jahr 1996 erstmals Musik als Audio-Dateien und geht somit als erster Anbieter digitaler Musik in Konkurrenz zum konventionellen Tonträgerhandel.33 Wenig später folgt die Website mp3.com. Deren Gründer Michael Robertson bietet Bands und Musiker:innen an, ihre Stücke über das Portal zum freien Download anzubieten. Wie die späteren Streaming-Dienste stellt mp3.com den mittelbaren Kontakt zwischen Produzent:innen und Konsument:innen her und deutet damit die Logik des Plattformkapitalismus und genauer noch die Funktionsweisen eines Dienstes wie Spotify bereits an.34

Nur kurz darauf geht mit Napster ein Dienst online, welche die diesem Unterfangen zugrundeliegende Gratismentalität weiter befeuert: In dem Peer-to-Peer-Netzwerk zirkuliert Musik unreguliert zwischen einzelnen Nutzer:innen, ohne dass dafür Tantiemen irgendeiner Art an die Musikindustrie fließen. War die sogenannte Piraterie von Musik bisher noch an physische Formate gebunden gewesen und dementsprechend umständlich, ermöglicht die Dematerialisierung und Kopierbarkeit von Musikstücken im File-Format nunmehr deren unproblematische und unreglementierte Distribution über das Internet. Das Resultat dieser neuen sharing economy: Die Tonträgerverkäufe brechen ein.

Ein Lichtblick scheint der im Jahr 2003 von Apple ausgerollte iTunes Store zu sein. Dort ist Musik entweder in traditionellen Formaten wie dem Album oder der EP oder jedoch »unbundled«35, das heißt als einzelne Songeinheit käuflich zu erwerblich. Mit der Einführung des iPods hatte dasselbe Unternehmen zwei Jahre zuvor ein Gerät vorgestellt, dessen Konzeption sich an die neue Rezeptionshaltung angepasst war und eine neue (Selbst-)Organisation von Musik per »reaggregation«36 von einzelnen Files als Playlist durch die Konsument:innen erlaubte.37 Mehr noch als das klassische Mixtape ist die Playlist dynamisch. »I wasn’t consuming music so much as curating it […]; I was becoming an organiser, an alphabetiser«38 schreibt Dylan Jones im Jahr 2005 in iPod, Therefore I Am.

Doch wie die technische-technologische Devolution durch den Walkman neue kulturelle Entwicklungen mit sich brachte, scheint die neue, vom Unternehmen Apple entwickelte Technologie nicht unbedingt einen kulturellen Fortschritt anzustoßen: »I had my own canon, one built on experiences I had when I was back in my teens, when, if I chose to, I would play an album until I liked it, no matter how insubstantial it was«39, schreibt Jones weiter und bringt damit subtil zum Ausdruck, dass zwar das Hörverhalten neue Wege betritt, diese jedoch in die persönliche Vergangenheit führen.

Diese kuratorische Wende, die zuerst durch das Aufkommen von Playlists auf iTunes als Plattform sowie im Innern der iPods der Konsument:innen stattfand, wirkt sich auf die Kulturproduktion aus. Im Jahr 2011 blickt der Musikjournalist Simon Reynolds pessimistisch auf die vorangegangenen Jahre zurück und attestiert der Popkultur, an einer Retromania, so der Titel seines Buchs über die Retro-Phänomene des frühen 21. Jahrhunderts, zu leiden. Reynolds zufolge verliert die globale Popkultur in Formen wie dem Mash-Up, zwei miteinander gemixten Songs, ihre kulturelle und temporale Unterscheidbarkeit.

»Like the iPod and online music-streaming services, the overall effect is to flatten out all the differences and divisions from music history«40, schreibt Reynolds über einen Prozess in der Produktion, der die neuen Gewohnheiten in der Rezeption widerspiegelt. Letztere wird ab den Zehnerjahren zunehmend von (teil-)automatisierten Programmen geformt.

Siegeszug der Metawaren: Algorithmische Playlists, Datafizierung und der kuratorische Turn

Während sich der im Jahr 2005 gelaunchte Service Pandora noch weitgehend am Format des klassischen Radios orientierte, wurde das bei Winamp so zentrale revoutionäre Feature des Playlistings bereits zuvor »much more thoroughly commodified in the iTunes Store«41, wie Jeremy Wade Morris in Selling Digital Music, Formatting Culture bemerkt. »In addition to grouping songs by album or artist, as one might find in traditional retail stores, the early iterations of the iTunes Store sorted and sold much of its content through curated playlists.«42 Diese Playlists sind thematisch, etwa nach Jahreszeit oder zu bestimmten Anlässen wie Halloween bestückt oder werden von Firmen kuratiert.

Analog zur Werbeeinspielung, wie sie seit Anfangstagen zum Radio dazugehören, betreiben Wirtschaftsunternehmen Marketing, indem sie »metacommodities«43 zusammenstellen. Der Verkauf von Musik in Form dieser Metawaren begegnet dem Trend, dass durch zunehmendes unbundling der Konsum gezielter ausfällt und somit die Gewinnmargen der Plattformen, Labels und Rechteinhaber:innen durch das veränderte Konsumverhalten niedriger ausfallen als noch in Zeiten des regulären Tonträgerverkaufs. Es nimmt daher nicht wunder, dass iTunes bald versucht, dank algorithmengesteuerter Einwirkung vermehrt automatisierte Kaufimpulse zu geben, wie sie zu dieser Zeit etwa der Online-Marketplace Amazon perfektionierte hat: Im Jahr 2008 wird ein Feature namens Genius ausgerollt, das auf Grundlage der iTunes-Library von Konsument:innen Empfehlungen vorgibt.

Die Grundsteine für eine Datafizierung und zunehmende Automatisierung der internen Organisation von Download-Shops beziehungsweise Streaming-Plattformen wurden schon davor gelegt. Pandora implementierte schon Anfang des Jahrzehnts das Music Genome Project. Dieses »aimed to represent the musical qualitites of tracks in a set quantity of discrete ›genes‹: features such as the gender of the vocalist, the most prominent instrument, the relative tempo, and so on«44, beschreiben K. E. Goldschmitt und Nick Seaver die Bemühungen, die in einer algorithmisch strukturierten Organisation des so ausgewerteten Ausgangsmaterial münden.

In seinem Aufsatz »Neo-Muzak and the Business of Mood« weist Paul Allen Anderson darauf hin, dass das Unterfangen der von Muzak durchgeführten Indexierung von Musik ähnelt.45 Wo bei Muzak die Wirkungsabsicht im Vordergrund steht – sie soll gleichermaßen eine bestimmte Stimmung simulieren wie stimulierend wirken –, ist dies Pandora noch nicht eingeschrieben. Der Dienst verfolgt jedoch die klassische, aus dem Radio bekannte »lean back method«46, wie sie der Musikjournalist Mark Hogan bei Pitchfork schreibt: Konsument:innen müssen nicht kuratorisch tätig werden.

Der 2008 ausgerollte Dienst Spotify dagegen nimmt seinen Anfang als »lean foward«-Plattform: Eine »Celestial Jukebox«47, in dem Hörer:innen durch eine breite Auswahl stöbern können. Das Versprechen ist ein doppeltes. Nicht nur erlaubt die Plattform die Entdeckung neuer Musik, sondern genauso Musiker:innen die Chance des Entdecktwerdens an den tradierten Vertriebswegen der Musikindustrie vorbei. Playlist-Funktionen werden zwar von Anfang an von Spotify angeboten48, rücken aber erst ab Ende 2012 in den Fokus. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: »Curating millions of songs was a task too large to be left to users.«49 Der Überfluss des digitalen Raums muss also verknappt werden, um die Konsumierbarkeit und damit die Wertschöpfung zu erleichtern.

Es kommt zu einem »curatorial turn«50 in der Strategie des Unternehmens, wie es die Autor:innen von Spotify Teardown ausdrückten. »This meant that Spotify began to transform itself from being a simple distributor of music to the producer of a unique service.«51 Der Akt der Kuration selbst wird kommodifiziert und verkauft. Nachdem also die Musikindustrie Plastik beim Schmelzen zusehen musste, verfestigt sich dieses erneut und präsentiert nunmehr in Form einer neuen Warenform, die abstrakter ist als alles Vorangegangene. Das Ständische und Stehende kann sukzessive wieder hergestellt werden, die Musikindustrie nach dem massiven Einbruch der Verkaufszahlen »gerettet«, das heißt der vorige Status quo unter neuen Rahmenbedingungen wieder hergestellt werden.

Der Sachzwang gibt den Ton an: Playlist-Alben, Songwriting und Spotify-core

Die zunehmende Dominanz der Playlists als Metaware im Sinne Morris‘ verändert auch die Kulturproduktion als solche. Nachdem das Konzept des Album »digitally de-ontologised«52 wurde, wird es selbst der Modifikation preisgegeben. Drake, einer der meistgestreamten Musiker:innen überhaupt53, veröffentlicht beispielsweise Alben mit bisweilen unverhältnismäßig vielen Songs darauf. »This is a symptom of the attention-driven platform economy as well: the churning stomach of the content machine constantly demands new stuff. In such an economy, music that doesn’t take off is dropped once it has outlived its usefulness – either as a brand prop or as playlist-filler«54, kommentiert die Musikjournalistin Liz Pelly diesen Trend.

Bisweilen folgt der Produktions- und Veröffentlichungsprozess bereits der dynamischen Logik der Playlist: Kanye West verändert nach der Erstveröffentlichung des Albums The Life of Pablo am 14. Februar 2016 wiederholt dessen Tracklist oder tauscht die Stücke gegen leicht veränderte Versionen ihrer selbst aus.55 Andere wiederum geben das Format komplett auf und verlegen sich auf die Veröffentlichung von Einzelstücken in hoher Taktung, die nur nachträglich zu Alben zusammengefasst werden. Das Album als Kulturform reaggregiert sich im dematerialisierten Raum wieder in derselben Form, in der es sich einst materialisiert hatte: als bloße Zusammenstellung einzelner, diskreter Musikstücke, verbunden durch kaum mehr als ihre Urheberschaft.

Das Album verliert also an Relevanz, es hört aber nicht auf zu existieren. Weil sich die Charts als Medium der Erfassung und Definition von Popularität auf dieses unbundling im großen Stil reagieren und sich den neuen Umständen anpasst, indem sie auch Songs registrieren, die nicht offiziell als Single deklariert sind, kommt es zu paradoxen Konsequenzen: Als Ed Sheeran im Jahr 2017 ÷ veröffentlicht, stehen alle 16 Songs des Album kurz darauf zur selben Zeit in den Top 20 der britischen Single-Charts.56 Populär ist damit nunmehr nicht etwa der einzelne Songs oder Alben, als populär gilt nach dem neuen Verständnis die Durchwirkung von Plattform durch einzelne Künstler:innen, die damit in diesem Umfeld selbst zum beworbenen beziehungsweise zum sich selbst bewerbenden Produkt werden.

Auch das Songwriting verändert sich. Viele der größeren Hit-Songs der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zeichnen sich dadurch aus, innerhalb der ersten dreißig Sekunden bereits mehrere musikalische Motive und bisweilen sogar den Refrain einzubringen, gelegentlich auch Feature-Gäste zu Gehör zu bringen. »It’s almost like an executive summary«57, zitiert Hogan den Songwriter Charlie Harding. Die Gründe dafür sind nicht etwa ästhetischer Natur, wie Hogan unterstreicht: »In order for a stream to count toward chart tallies and, reportedly, for royalty payouts, a given song must be played for at least 30 seconds.«58 Wirtschaftliche Sachzwänge geben mehr und mehr den Ton an.

Unter den vielen anderen Phänomenen, die in diesem Zug zu bemerken sind, gehören beispielsweise die höhere Hinzunahme von prominenten Feature-Gästen zu Stücken oder die Veröffentlichung verschiedener Versionen von einem Song. Aber auch der Sound als solcher ändert sich. In The Song Machine. Inside the Hit Factory beschreibt John Seabrook eine allmähliche Verschiebung hin zu erprobten Motiven.59 Analog zum Mash-Up-Phänomen des vorigen Jahrzehnts entstehen ausgehend von der neuen Rezeptionsform distinkte ästhetische Parameter, die vom Playlist-Paradigma vorgegeben wurden.

So definiert die Playlist wie vormals die Charts unter ökonomischen Prämissen, was Popularität überhaupt bedeutet und folglich, was populär ist. Daraus entsteht »Spotify-Core«: »[M]uted, mid-tempo, melancholy pop, a sound that has practically become synonymous with the platform«60, wie Pelly das Nicht-Genre definiert.

Die doppelte Enttäuschung: Institutionalisiertes Payola, »Fake Artists« und das neue Gatekeeping

Eine wirtschaftliche Erklärung für diesen ästhetischen Paradigmenwandel liefert Alan B. Krueger. Er spricht von »a tendency for what is popular to become even more popular«61: »[P]laylists that recommend a small set of songs to millions of listeners tend to magnify superstar effects. These features reinforce bandwagon effects and strengthen cumulative advantage benefits for star recording artists.«62 Befeuert werden diese Prozesse von Labels, die »institutionalisiertes Payola«63 betreiben64 und zugleich Gefahr laufen, von Spotify als eine Art Metalabel abgelöst zu werden.65 Denn bald kommen Fragen auf, ob das schwedische Unternehmen nicht allein Metawaren in Form von Playlists, sondern auch die Musik selbst produziert.

Tim Ingham identifiziert im Sommer 2017 in Music Business Worldwide mindestens 50 Namen, zu denen sich außerhalb der Plattform keinerlei Informationen finden lassen und die doch dank prominenter Platzierung in beliebten Spotify-Playlists bisweilen mehrere Millionen Streams für sich verbuchen konnten.66 Den wenigsten der Hörer:innen wird überhaupt aufgefallen sein, dass die Stücke in dezidiert auf Stimmungs- oder Aktivitätsbegleitung ausgerichteten Playlists – »Peaceful Piano, Piano In The Background, Deep Focus, Sleep, Ambient Chill and Music For Concentration«67, zählt Ingham auf, klassischer Neo-Muzak also68 – von anonymen Personen stammen.

Eine kurz darauf von Dani Deahl und Micah Singleton für das Magazin The Verge angestellte Recherche ermittelt jedoch, dass es sich dabei um »legitimate artists, writers, and session musicians using pseudonyms for a variety of personal and business reasons«69 handele. Der Verdacht, dass Spotify selbst kommissionierte Musik über die eigene Plattform ausgespielt und in direkter Konkurrenz zu regulären Künstler:innen in Playlists platziert hat, kann jedoch nicht erwiesen werden. Der Fall beweist indes, wie umkämpft das Playlist-Placement ist – und für wie groß das Handlungsmonopol Spotifys auf der eigenen Plattform eingeschätzt wird.

Das doppelte Versprechen der Entdeckung und des Entdecktwerdens kann so nicht eingelöst werden. Diese Entwicklung steht im Widerspruch zur Theorie des »Long Tail«, wie sie Chris Anderson im Jahr 2006 in seinem gleichnamigen Buch proklamierte. Große Hits würden darin mit »an infinite number of niche markets, of any size«70 konkurrieren – wovon wiederum in Zeiten des digitalen Überflusses vor allem Nischenmärkte profitieren. »This has yet to materialize in the music business. Instead, the middle has dropped out of music, as more consumers gravitate to a smaller number of superstars«71, kommentiert Krueger dies trocken in Rockonomics. Das gilt in diesem Umfeld insbesondere für Superstars ohne Gesichter.

Es fällt folglich unbekannteren Musiker:innen immer schwerer, sich in just diesem Umfeld zu behaupten: »In fact, playlists are becoming the new gatekeepers for music«72, resümiert Krueger.73

Die neuen Kontexte: Discover Weekly, Überwachungskapitalismus und (Selbst-)Optimierung

Oft wird angesichts der Restrukturierung der Rezeptionshaltung angemerkt, dass Streaming-Plattformen dem von physischen Produkten wie Schallplatten oder CDs mitgeliefertem Kontextualisierungsangebot in Form von Artwork, Credits, Linernotes, Lyrics und anderen Informationen nicht oder zumindest nicht vollumfassend abbilden würden. Doch schaffen Playlists stattdessen ganz eigene Kontexte für ihr Publikum.

Nach dem Kauf des Musikintelligenz-Unternehmens Echo Nest im Jahr 2014 führte Spotify wenig später erst die sich wöchentlich ändernde, personalisierte Playlist Discover Weekly ein. Das Feature trägt maßgeblich zur Popularität der Plattform bei, weil es zugleich Personalisierung und Bequemlichkeit verspricht – wie ein Mixtape, das nicht selbst überspielt werden muss. Gefüttert werden die Empfehlungsalgorithmen aus Datensets, die weit über fixe Parameter wie Alter, Geschlecht und anderen hinaus das Verhalten der Nutzer:innen aufzeichnen. Die die Playlists organisierenden Algorithmen sollten in diesem Sinne wie auch überall sonst in der Plattformökonomie als Übersetzung von Geschäftsinteressen in Code verstanden werden.

Die Rezipient:innen leisten so eine »new form of digital labour, extracted by technical interfaces designed for the capture of data«74, wie Michael Scherzinger anmerkt. Es entstehen gigantische Feedback-Schleifen, die wiederum neue Paradigmenwechsel anstoßen. Das Discover Weekly in den Titel eingeschriebene doppelte Versprechen der Entdeckung sollte als eine Form von nudging verstanden werden, wie sie im Überwachungskapitalismus üblich ist.75 Die neue Passivität ist auf einer Form der Aktivität aufgebaut, die nichts mit aktivem Hören zu tun hat.

Deshalb wird Spotify beispielsweise in Spotify Teardown als »conventional media firm«76 bezeichnet: Zwar mag das Unternehmen als Produzent von Metawaren auftreten, das eigentliche Geschäft aber liegt in einer Dienstleistung, weil es Dritte mit Daten versorgt. »Are you playing the music, or is the music playing you?«77, fragt Seabrook nicht ohne Grund. Lobte Shuhei Hosokawa in Der Walkman-Effekt noch die Singularisierung und die Autonomie des konsumierenden Subjekts, verstärkt sich diese Tendenz im Streaming nur umso mehr. Nutzer:innen greifen über ein universelles Interface auf personalisierte Inhalte zu und diese Personalisierung bedingt eine neue Atomisierung.

Das Resultat dieser Prozess ist mit gängigen Kulturbegriffen nicht mehr kompatibel. Denn ihr Ergebnis bedingt eine Vergleichbarmachung von Nutzer:innen, die auf einer Plattform zugleich einem eigentlich homogenen Angebot und einer heterogenen Erfahrung ausgesetzt werden. Das zeichnet sich in der merklichen Neuausrichtung von Playlists ab, die vor allem bestimmte Stimmungen erzeugen und verstärken oder aber auf die Gestaltung von Aktivitäten wie gemeinsame Abendessen oder sogar sportliche Leistungen einwirken sollen. Liz Pelly konstatiert: »It turns out that playlists have spawned a new type of music listener, one who thinks less about the artist or album they are seeking out, and instead connects with emotions, moods and activities«79.

Laut Spotify Teardown überwiege zunehmend ein »general self-help ethos and cheerfulness of playlist descriptions«78. Playlists werden zum (Selbst-)Optimierungsinstrument, das zur Regulation des Gefühlshaushalts eingesetzt wird, als handle es sich um Pillen: ein Upper in Form der Beast Mode-Playlist morgens, ein Downer mit Ambient Chill nach Feierabend. Die Playlist wird in diesem Kontext also nicht allein zur ubiquitärsten, sondern im wahrsten Sinne des Wortes dominantesten Iteration der Ordnung schaffenden Liste. »The molding of users into types or taste profiles can itself be seen as an expression of the ›soft biopolitics‹ that […] regulate our lives without us being fully aware of it«80, kommentiert dies Spotify Teardown.

So decken Plattformen wie Spotify durch ihre Playlists nicht etwa einen Bedarf, sondern produzieren ihn erst, wie Jacques Attali es Ende der siebziger Jahre angesichts der Kulturindustrie im Allgemeinen beobachtete. Mehr noch: »Music is prophecy«, schrieb der Ökonom und spätere Berater von François Mitterrand im Jahr 1977 in Noise. The Political Economy of Music. »Its styles and economic organization are ahead of the rest of society because it explores, much faster than material reality can, the entire range of possibilities in a given code.«81 Die Playlist prägt einen kulturellen Wandel, der sich in anderen Lebensbereichen sozial und ökonomisch auswirkt.

Im Laufe der Geschichte der Playlist wird Musik zu schmelzendem Plastik, das heißt in seiner Warenform aufgelöst und sofort wieder reaggregiert, um in eine Metaware eingepasst zu werden, die indes ständig in dynamischer Veränderung befindlich ist und aus der Vergangenheit ihrer Hörer:innen deren Zukunft antizipiert. Sie vereinzelt diese, indem sie sie und die von ihnen konsumierte Kulturproduktion homogenisiert. So treibt sie Prozesse der Neoliberalisierung weiter, die lange vor ihrer Entstehung angestoßen wurden.

Die Journalistin Cherie Hu sah indes Ende 2018 das Zeitalter der »post-playlist«82 gekommen und stellte stattdessen eine Form von »artist-centric curation«83, das heißt eine noch größere Monopolisierung des Superstar-Systems, in Aussicht stellen. Derweil jedoch befördern Apps wie das – selbstverständlich auf die Stimmung der Hörer:innen einwirkende – Programm Endel84 die zunehmende Automatisierung des Produktionsprozesses und treten Podcasts im Streaming-Umfeld zunehmend in Konkurrenz mit der angebotenen Musik. Doch erfreut sich die Playlist als Form und Medium weiterhin steigender Beliebtheit bei den Konsument:innen, deren Verhalten sie registriert und, wie manche befürchten, auch lenkt.

Welche Zukunft die Playlist aktuell prophezeit, steht noch nicht fest. Nur eins ist derzeit sicher: This text may not reflect recent changes.

1 https://en.wikipedia.org/wiki/Category:Lists_of_music_lists, abgerufen am 06. Juli 2020.

2 Ebd.

3 Vgl. Alan B. Krueger, Rockonomics. What the Music Industry Can Teach Us About Economics (and Our Future), John Murray, London 2019, S. 192.

4 https://support.spotify.com/de/using_spotify/playlists/create-a-playlist/, abgerufen am 06. Juli 2020.

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Wiedergabeliste, abgerufen am 06. Juli 2020.

6 Ebd.

7 John Seabrook, The Song Machine. Inside the Hit Factory, W.W. Norton, New York 2016, S. 287.

8 Krueger, Rockonomics, S. 192.

9 Vgl. K.E. Goldschmitt und Nick Seaver, »Shaping the Stream: Techniques and Troubles of Algorithmic Recommendation«, in: Nicholas Cook, Monique M. Ingalls und David Trippett, The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge University Press, Cambridge 2019, S. 63-81, hier S. 65.

10 Chris Anderson, The Long Tail. How Endless Choice is Creating Unlimited Demand, Random House Business Books, London 2006, S. 34.

11 https://open.spotify.com/playlist/3xN6J0LCyVj8k1gVCguWRH, abgerufen am 06. Juli 2020.

12 https://www.chiquita.de/stickers/chiquita-playlists/, abgerufen am 06. Juli 2020.

13 Maria Eriksson, Rasmus Fleischer, Anna Johansson, Pelle Snickars und Patrick Vonderau, Spotify Teardown. Inside the Black Box of Streaming Music, The MIT Press, Cambridge MA 2019, S. 117.

14 Jeremy Wade Morris, Selling Digital Music, Formatting Culture, University of California Press, Oakland 2015, S. 162.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Sumanth Gopinath und Jason Stanyek, »Technologies of the Musical Selfie«, in: Nicholas Cook, Monique M. Ingalls und David Trippett, The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge University Press, Cambridge 2019, S. 89-118, hier S. 97.

18 Ebd.

19 Vgl. Jacques Attali, Noise. The Political Economy of Music, übers. von Brian Massumi, University of Minnesota Press, Minneapolis/London 1985, S. 51-55. Vgl. auch Ernest A. Hakanen, »Counting down to Number One: The Evolution of the Meaning of Popular Music Charts«, Popular Music, Ausgabe 17, S. 95-111, hier S. 102.

20 Vgl. Martin Scherzinger, »Toward a History of Digital Music: New Technologies, Business Practices and Intellectual Property Regimes«, in: Nicholas Cook, Monique M. Ingalls und David Trippett, The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge University Press, Cambridge 2019, S. 33-57, hier S. 35.

21 Vgl. Hakanen, »Counting down to Number One«, S. 97.

22 Scherzinger, »Toward a History of Digital Music«, S. 39.

23 Hakanen, »Counting down to Number One«, S. 97.

24 Attali, Noise, S. 103.

25 Dieser Circulus virtuosus geht wie im (Ausnahme-)Fall von Mariah Careys »All I Want for Christmas« oder Wham!s »Last Christmas« jedes Jahr aus Neue ad infinitum oder, viel eher noch, ad nauseam weiter.

26 Shuhei Hosokawa, Der Walkman-Effekt, übers. von Birger Ollrogge, Merve, Berlin 1987, S. 12.

27 a. a. O., S. 16.

28 a. a. O., S. 17.

29 a. a. O., S. 18.

30 a. a. O., S. 20.

31 a. a. O., S. 14.

32 Ebd.

33 Vgl. John Alderman, Sonic Boom. Napster, P2P and the New Pioneers of Music, Fourth Estate, London 2002, S. 44-46.

34 »Platforms, in sum, are a new type of firm; they are characterised by providing the infrastructure, to intermediate between different user groups, by displaying monopoly tendencies driven by network effects, by employing cross-subsidisation to draw in different user groups, and by having a designed core architecture that governs the interaction possibilities.« Nick Srnicek, Platform Capitalism, Polity, Cambrdige/Malden 2017, S. 48.

35 Krueger, Rockonomics, S. 197.

36 Morris, Selling Digital Music, S. 159.

37 »Napster […] had effectively laid the groundwork for Apple’s rise to market dominance, forging the way toward an efficient and interactive new model for music listening«, kommentiert beispielsweise Scherzinger. Scherzinger, »Toward a History of Digital Music« S. 44.

38 Dylan Jones, iPod, Therefore I Am, Phoenix, London 2005, S. 19.

39 a. a. O., S. 21.

40 Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, Faber and Faber, New York 2011, S. 360.

41 Morris, Selling Digital Music, S. 159.

42 Ebd.

43 a. a. O., S. 160.

44 Goldschmitt und Seaver, »Shaping the Stream«, S. 70.

45 Paul Allen Anderson, »Neo-Muzak and the Business of Mood«, Critical Inquiry, Ausgabe 41, S. 811-840, hier S. 823.

46 https://pitchfork.com/features/article/9686-up-next-how-playlists-are-curating-the-future-of-music/, abgerufen am 06. Juli 2020.

47 Geprägt wurde der Begriff bereits im Jahr 1994 von Paul Goldstein, auf Spotify und andere Streaming-Plattformen wurde er jedoch schon früher angewendet. Vgl. u.a. https://freedom-to-tinker.com/2012/09/18/is-spotify-the-celestial-jukebox-for-music/, abgerufen am 06. Juli 2020.

48 Vgl. Eriksson, Fleischer, Johansson, Snickars und Vonderau, Spotify Teardown, S. 117.

49 a. a. O., S. 61.

50 Ebd.

51 Ebd.

52 Scherzinger, »Toward a History of Digital Music«, S. 280.

53 Vgl. u.a. https://www.washingtonpost.com/arts-entertainment/2019/12/03/drake-was-spotifys-most-streamed-artist-decade-what-does-that-actually-mean/, abgerufen am 06. Juli 2020.

54 https://thebaffler.com/downstream/streambait-pop-pelly, abgerufen am 06. Juli 2020.

55 Diese wurden selbstverständlich in Listen dokumentiert. Vgl. u.a. https://www.xxlmag.com/kanye-west-the-life-of-pablo-changes/, abgerufen am 06. Juli 2020.

56 https://www.theguardian.com/music/musicblog/2017/mar/10/ed-sheeran-has-16-songs-in-the-top-20-and-its-a-sign-of-how-sick-the-charts-are, abgerufen am 06. Juli 2020.

57 https://pitchfork.com/features/article/uncovering-how-streaming-is-changing-the-sound-of-pop/, abgerufen am 06. Juli 2020.

58 Ebd.

59 Ein Songwriter wie Dr. Luke, der mehrfach wegen Plagiats verklagt wurde, folgt Seabrook zufolge der Logik einer »Rule of Three« – erst nachdem ein Song dreimal gehört wird, besagt diese, seien Hörer:innen in der Lage, sich darüber ein Urteil zu bilden. Erinnert ein Stück aber sofort an ein zuvor bekanntes, wird dieser Prozess maßgeblich verkürzt. Seabrook, The Song Machine,S.248. Siehe auch Krueger, Rockonomics, S. 10.

60 Pelly, Streambait Pop.

61 Krueger, Rockonomics, S. 86.

62 a. a. O., S. 193.

63 So bezeichnete es Fredric Dannen in seiner Chronik der US-amerikanischen Musikindustrie ab den fünfziger Jahren. Fredric Dannen, Hit Man. Makler der Macht und das schnelle Geld im Musikgeschäft, übers. von Peter Robert, Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1998, S. 25. Tatsächlich ist Payola im Streaming-Umfeld rechtlich nicht verboten.

64 Zur Veröffentlichung von Drakes Album Scorpion werden Songs davon dank Deals zwischen Spotify und dem beteiligten prominent in selbst in inhaltlich völlig fremden Listen wie »Best of British« (obwohl diverse Stücke von britannischer Grime-Musik inspiriert sind, ist Drake doch kanadischer Staatsbürger) aufgenommen. Apple bewirbt es sogar in Verbindung mit der Sprachassistenz-App Siri. Vgl. Krueger, Rockonomics, S. 182.

65 »Another development to watch is that streaming companies can attempt to compete with traditional record labels and publishers, much as Netflix has done with movie studios. Spotify has encouraged artists to post music on Spotify directly, without a label […].« Krueger, Rockonomics,S. 202. Pelly drückt es drastischer aus: »No matter how you look at it, it’s clear that Spotify is trying to replace labels.« Pelly, Muzak.

66 https://www.musicbusinessworldwide.com/spotify-denies-its-playlisting-fake-artists-so-why-are-all-these-fake-artists-on-its-playlists/, abgerufen am 06. Juli 2020.

67 Ebd.

68 Vgl. Anderson, Neo-Muzak and the Business of Mood.

69 https://www.theverge.com/2017/7/12/15961416/spotify-fake-artist-controversy-mystery-tracks, abgerufen am 06. Juli 2020.

70 Anderson, The Long Tail, S. 5.

71 Krueger, Rockonomics, S. 13.

72 a. a. O., S. 193.

73 Mehr noch werden dadurch soziale Ungerechtigkeiten befördert, wie Pelly in einem Text namens »Discover Weakly« schreibt. In einem Selbstversuch hatte die Journalistin ein neues Spotify-Profil erstellt und sich rein auf die Empfehlungsfunktion der Plattform verlassen, um ihr Datenprofil anschließend von einer von Spotify in Kollaboration mit einer Alkoholmarke gemeinsam angebotenem Feature auf geschlechtliche Verteilung hin auszuwerten: »Indeed, when I signed into the Smirnoff Equalizer last month, in the midst of my listening experiment, the app concluded that I had been listening to 100 percent male artists. What actually happened: I had merely been listening to what Spotify told me to listen to by way of its playlists.« https://thebaffler.com/latest/discover-weakly-pelly, abgerufen am 06. Juli 2020.

74 Scherzinger, »Toward a History of Digital Music«, S. 48.

75 Vgl. u.a. Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for the Future at the New Frontier of Power, Profile Books, London 2019, S. 293-309 sowie Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski, Die Gesellschaft der Wearables. Digitale Verführung und soziale Kontrolle, Nicolai Publishing & Intelligence GmbH, Berlin 2019, S. 30-34.

76 Eriksson, Fleischer, Johansson, Snickars und Vonderau, Spotify Teardown, S. 164.

77 Seabrook, The Song Machine, S. 289.

78 Eriksson, Fleischer, Johansson, Snickars und Vonderau, Spotify Teardown, S. 125.

79 https://thebaffler.com/salvos/the-problem-with-muzak-pelly, abgerufen am 06. Juli 2020.

80 Eriksson, Fleischer, Johansson, Snickars und Vonderau, Spotify Teardown, S. 136/137.

81 Attali, Noise, S. 11.

82 https://www.getrevue.co/profile/cheriehu42/issues/our-new-post-playlist-reality-138493, abgerufen am 06. Juli 2020.

83 https://www.patreon.com/posts/celestial-era-is-32326028, abgerufen am 06. Juli 2020.

84 Vgl. https://spex.de/endel-die-welt-als-wohlfuehlblase/, abgerufen am 06. Juli 2020.

85 Vgl. u.a. https://www.horizont.at/digital/news/spotify-millionen-schlacht-um-podcasts-81420, abgerufen am 06. Juli 2020.

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